WAS EUROPA VON SÜDKOREA LERNEN SOLL

„Das für mich persönlich Seltsamste in dieser Corona-Krise ist die Begeisterung des Westens über mein Heimatland Südkorea. Nicht nur Wirtschaftszeitungen wie die Financial Times oder liberale Medien wie New York Times und BBC, sondern auch linke Zeitungen wie die taz präsentierten die südkoreanischen Maßnahmen gegen die Covid-19-Ansteckungswelle als Vorbild für das Krisenmanagement auch im Westen. Die „Why don’t we do it like the Koreans?“-Frage ist in den USA zum Klischee in Pressekonferenzen geworden.“

In seinem starken Essay Was Europa von Südkorea nicht lernen kann behauptete Kimyoung Kim deutlich, dass „die Begeisterung des Westens über Südkorea“ größtenteils oberflächlich gewesen sei. Der sogenannte Mutterstaat, der alles unter Kontrolle hält, bei der die Bürger*innen glauben, „als läge gerade darin ein wichtiger Teil ihrer bürgerlichen Rechte“, sei nach der Meinung von Kimyoung Kim der Urquell des großen Erfolgs von Südkorea als „eine explizitere Form des postmodernen Polizeistaates.“

Es ist nicht selten zu sehen, dass Südkorea als ein deutliches Beispiel des hypermodernisierten Landes genannt wird. Ich bin auch größtenteils dafür, und ich möchte nicht gegen die Erörterung von Kimyoung Kim einen starken Einwand erheben. Aber hier fragt es sich, ob der Grund für den Triumph Südkoreas lediglich an der staatlichen „Fürsorge“ lag. Es ist in der Tat wahr, dass man in Südkorea rund um die Uhr imstande war und ist, mithilfe der Informationen der Regierung die Infizierten zu verfolgen. Wahrscheinlich deswegen analysierten viele europäische Expert*innen und Journalist*innen, dass diese umfangreiche „undemokratische“ Überwachung bzw. Verfolgung die Hauptursache des überlegenen Resultats gewesen sei, wenn man von der Existenz der zentralisierten Nationalkrankenversicherung absieht. Aber dabei gab es auch ein nicht zu übersehendes Phänomen: Die mütterliche Fürsorge, die die südkoreanische Regierung anbot, wurde häufig abgelehnt.

Nach meiner Erfahrung ließe es sich gegen Anfang März bereits kaum leicht sehen, dass man auf die Mahnungen der Regierung achtete. Auch war es nicht zu leugnen, dass die transparente Informationsbeschallung, die viele Europäer respektiert hätten, die Kehrseite der Medaille hatte. Je häufiger man informiert wurde, umso häufiger wurden die Informationen ignoriert. Dank der schweren Erfahrung der MERS-Epidemie wurde die Wichtigkeit der Hygiene Gott sei Dank nicht völlig verachtet, aber die Corona-Krise war allmählich für die meisten Koreaner*innen, die vor allem in der Hauptstadt Seoul oder im Umkreis deren wohnen, keine gravierende Situation, sondern nur ein Unglück, an dem ausschließlich die Unvorsichtigen sowie Verantwortungslosen schuld gewesen seien. Oder genauer gesagt, viele Koreaner*innen dachten nach und nach so, als wären die Infektionsfälle lediglich unter den Abergläubigen der Shincheonji-Sekte und den Bekannten deren zu finden.

Wie konnte dann Südkorea als ein Vorbild weltweit anerkannt werden? Meine These ist, dass Shincheonji, und zwar die Angst davor, komischerweise eine große Rolle gespielt hatte. Um das zu verstehen, ist es zunächst erforderlich, die Methode zu betrachten, wie die Anhänger von Shincheonji ihre Mission treiben. Bei der Glaubensverkündigung geben sie sich normalerweise als Christen oder Psychotherapeut*innen aus, damit man sie als vertrauenswürdig finden kann. Sogar ist es nicht selten zu erfahren, dass die Anhängergruppe selbst auf Shincheonji Vorwürfe macht. Sobald jemand während der angeblichen Psychotherapie bzw. Bibelstunde seine persönlichen Informationen wie z. B. Name und E-Mail Adresse verrät, wird er sofort als ein Ziel registriert. Wenn die Zielgruppen so bestimmt werden, spionieren sie die Anhängergruppe systematisch, um sie geheim auf die Bühne zu bringen und da eine zufällige Begegnung zu spielen. Durch die doppelt und dreifache Kontakte hält man nach und nach diese Beziehung für eine enge Freundschaft. Und erst nachdem sich das Opfer auf die Anhängergruppe völlig verlässt, begehen sie die Einladung zu Shincheonji.

누군 16만원 내는데 신천지 왜 공짜냐" 코로나 검사비 갈등 - 중앙일보

Welche Rolle spielten diese fast verbrecherische Missionsbemühungen bei der Corona-Krise in Südkorea? Es geht darum, dass die Mission jederzeit absolut heimlich getrieben wird. Bevor das Opfer schließlich in den sogenannten „Bibelkreis“ eingeladen wird, bleibt der Zusammenhang mit Shincheonji bei den Kontaktenherstellungen gar nicht offensichtlich und wird vollkommen verschleiert. Deswegen bekamen viele Koreaner*innen bei der Corona-Epidemie heftige Angst davor, dass sie keineswegs in der Lage waren, zu unterscheiden und ahnen, wer ein  Shincheonjianhänger ist und wo die Anhängergruppe nistet. Das heißt, dass alle Koreaner*innen damals keine andere Wahl hatten, als die Corona-Krise völlig als ihre eigene Sache zu denken, weil es ihnen fast unmöglich schien, die wahrscheinlichen Infizierten herauszufinden und den Abstand zu halten. Falls es nicht so gewesen wäre, wäre das allgemeine Tragen von Atemschutzmasken in Südkorea sowie der vorbildliche Erfolg Südkoreas gar nicht zu sehen gewesen. Dank der Angst gegen die unberechenbaren Ansteckungsmöglichkeiten hätte die Hygienepflicht überall in Acht genommen werden können, und dadurch hätte die massive Ausbreitung des Virus relativ früh eingedämmt werden können, obwohl es keine Ausgangssperre oder kein Kontaktverbot gab.

Darüber hinaus übte der Zorn über Shincheonji weitere Nebenwirkungen aus. Es war ja klar, wie Kimyoung Kim analysierte, dass die Koreaner*innen „fleißig das passende Verhalten als Mitbürger*innen lehren und lernen“ mussten. Aber das Motiv war größtenteils keine mütterliche Fürsorge eines postmodernen Polizeistaats, sondern fast mittelalterliche Ängste davor, dass man leicht stigmatisiert und mit dem scharlachroten Buchstabe vertrieben werden kann. Wer nicht als Abergläubiger gegolten werden wollte, musste das passende Verhalten zeigen und sich ständig unter Beweis stellen. Es war kein Zufall, dass die Kampagnen, die sich vor allem in den sozialen Medien entrollten, sah äußerst ähnlich wie Hexenverfolgung aus. Indem die meisten Koreaner*innen mächtig unter Druck standen, konnte die Regierung ohne strikte Maßnahmen relativ leicht das erste Ziel der Eindämmung erreichen. Der vorbildliche Erfolg Südkoreas wäre also nicht anders als eine ironische Kollaboration gewesen zwischen einer prämodernen Brutalität und einem postmodernen Polizeistaat.

Was soll Europa also von Südkorea lernen? Freilich ist das die Notwendigkeit der eigenen Dynamik. Im Gegensatz zu den manchen Analysen wäre es doch kein Problem, dass die gegenwärtige Politik Europas „nicht genug undemokratisch“ ist. Sondern wäre es eher problematisch, dass Europa daran zu gewöhnt ist, sich für eine „mündige Welt“ zu halten, und deswegen noch keine passende Dynamik fand, mit der man die allgemeine Pflicht der Hygiene mit Recht kräftig zwingen kann. Die nur mit dem Sollen aufgeforderten Pflichten, wie z. B. Solidarität für andere Mitbürger*innen, scheint es bedauerlicherweise gar nicht genug. Man kann in Deutschland ohne Bemühung schon anschauen, dass viele Menschen trotz des Kontaktverbots in ihrer Wohnung Party machen und ungeachtet wiederholter Mahnungen ohne Hygiene beliebig husten und niesen.

Der Spiegel nannte es als „tödliche Arroganz“, dass die Europäer „offensichtlich wirksame Methoden gegen das Virus erst abtun und dann sehr spät doch in Betracht ziehen.“ Aber meines Erachtens liegt die wahre europäische Arroganz eher darin, dass die Europäer in der jetzigen schweren Situation nur noch versuchen, lediglich „zu prüfen, welche Ideen man übernehmen kann – und was man wie anpassen sollte, damit es auch in ihrem Kulturkreis funktioniert.“ Sie beschweren sich ständig bei ihren Mitbürger*innen so, dass die asiatischen Lösungen zu radikal und daher das europäische Modell schwer zu entwickeln sei. Aber ich möchte sie mal fragen, ob die Lösungen Südkoreas wirklich so radikal war. Das Gesundheitspflegesystem der südkoreanischen Regierung ist in der Tat keineswegs so grausam wie die Herrschaftsform, die von der Schriftstellerin Juli Zeh in ihrem Roman Corpus Delicti dargestellt wurde. Es sieht zwar wie ein zutreffendes Beispiel für den postmodernen Polizeistaat aus, aber die Fäden hält meistens weder die Regierung noch die Politik in der Hand. Man kann die Fürsorge einfach ignorieren oder sogar manchmal blockieren. De facto ist es in Südkorea zu betrachten die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich, die die meisten “undemokratischen” Phänomene verursacht. Politisch ist Südkorea jedoch nicht weniger als Europa frei, wenn man davon absehen darf, dass die politische Freiheit normalerweise vom Geld abhängt. H. e., wenigstens systematisch ist das Land frei.

Der wahre Grund für den Erfolg Südkoreas gegen COVID-19 war also kein eigenartiges System, sondern die beinahe mittelalterliche brutale Energie, die dank der Existenz eines deutlichen Feindes auftauchte und die Maßnahmen der Regierung mächtig in Gang brachte. Die Aufgabe Europas wäre also nicht, eine schönere politische Renovierung der asiatischen „undemokratischen“ Methode zu erfinden, sondern, eine wirklich „mündige“ Dynamik herauszufinden, um die eigenen bisherigen Maßnahmen gegen Corona-Pandemie praktisch funktionieren zu lassen. Zum Glück (wenn ich so sprechen darf) hatte Südkorea Shincheonji-Affäre. Und Jetzt ist Europa dran. Was kann und darf Europa als „eine Mündige Welt“ erwarten?

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